wohinWOHIN AUCH IMMER
Erzählungen
Haymon Verlag Innsbruck 2009

Der Besuch

Vor einigen Wochen habe ich begonnen farbig zu träumen.
Es sind Farben, die mich unter anderen Umständen ans Wasser erinnern könnten.
Ans Meer. An Flüsse, Seen, an frühere Zustände von Tauchen und Lückenlosigkeit, in denen es schien, das Leben könnte immer so sein: leicht, schwebend.
Tückische Farben. Nachts drücken sie mir den Hals zu.
Beschweren meine Schultern, die auch tagsüber hängen.
"Geh zum Arzt", sagt Gerd, er legt seinen Zeigefinger auf sein rechtes Lid:
"Wie sieht das denn aus."
Ausgerechnet jetzt ist er zu Besuch. Als ich am Telefon vor zwei Tagen sagte:
"Lieber nicht -", lachte er und meinte: "Aber Schwesterchen, wenn ich doch
solche Sehnsucht nach deinen blauen Äuglein habe."
Er hat von einem Termin in der Stadt gesprochen, aber ich bin sicher, er hat gar keinen.
Ich drehe mich um, gehe ins Bad. Gerd grinst hinter mir her, ich schließe die Tür.
Im Spiegel sehe ich, daß das Weiß in meinen Augen von roten Adern durchzogen ist. Ich krame nach Tropfen. Mir ist heiß. Selbst die geschlossene Tür kann nicht verhindern, daß Gerds Besorgnis mich anweht wie ein Wüstenwind. Obwohl ich doch längst zu heulen aufgehört habe. Ich schraube die kleine Flasche auf, lege den Kopf zurück. Zucke. Die Tropfen sind kalt, quellen unter meinen Lidern hervor. Rinnen die Wangen hinab.
Als ich wieder aufschauen kann, sehe ich alles verschwommen: Nur zwei blaue Flecken starren mir entgegen.
"Gehts wieder", sagt Gerd vor der Tür.
"Klar", sage ich.
Wasche Gesicht, Hals, Hände. Trage passend zu meinem roten Pullover leuchtendroten Lippenstift auf.
Früher habe ich in Schwarzweiß geträumt. Das weiß ich erst seit kurzem.
Seit dem Tag, an dem ich Lisa besuchte.