…Mit ihrem Roman “Flugschnee” verwandelt Birgit Müller-Wieland Zeit- in Familiengeschichte.(…) Heimlichkeiten, Verschwiegenes und Verdrängungen treten zutage. Und schon wird aus einem Buch, das sprachlich makellos gearbeitet ist, eine unangenehme Angelegenheit. Es geht nicht nur um die Sünden einer Familie, sondern die Fehler einer ganzen Gesellschaft.(…) Birgit Müller-Wielands Prosa ist von eleganter Art. Harten Stoff bereitet sie nahezu anmutig auf.
-Anton Thuswaldner, Salzburger Nachrichten, September 2017
…Flugschnee ist ein mehrstimmiger Text mit einer zeitlichen Tiefendimension über mehr als halbes Jahrhundert hinweg. (…) Es handelt sich um einen weitgehend im bürgerlichen Milieu angesiedelten, nicht mühsam zu lesenden Roman, der aber eine aufmerksame, die Zwischentöne wahrnehmende Leserschaft erfordert, um die zarte Schönheit und die komplexen Botschaften, die Haupt- und Nebengeleise dieses Textes erfassen zu können: Gedächtnis und Erinnerungen sind brüchiges Eis, Vergessen und Erinnerungslöcher können Schutzengel sein, das Leben ist ein gefährliches Abenteuer, jede Generation hat ihre Entfremdungen, Abgründe, ihre Leichen im Keller, unerledigte, unabsehbar fortwirkende, vererbbare(?) Geheimnisse, Träume und Halluzinationen enthalten pralle Wahrheiten - die Gegenwart ist voll von Vergangenheiten, was wissen wir voneinander?
-Karl Müller, Literatur und Kritik, September 2017
...Es gibt Bücher, die das Leben verändern. Nicht nur ein bisschen, sondern von Grund auf, für immer. Eines dieser Bücher ist „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Für die Figur Vera aus dem Roman „Flugschnee“ ist es lebensentscheidend. (…) Flugschnee“ greift anhand von Figuren aus drei Generationen sehr viele Themen mehr oder weniger beiläufig auf, vom fordernden Alltag mit Kindern über Homosexualit&äuml;t bis hin zum Altwerden. Das alles beherrschende Thema ist jedoch die Frage, wie Familien mit ihren „Leichen im Keller" umgehen, und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Es ist die Frage: „Wenn unsere Vorfahren uns neben dem üblichen Genmaterial auch ihre Verletzungen und Traumata vererben: Was bedeutet das für unsere Leben? Unsere Träume?“ Diese Frage stellt sich die Berliner Studentin Lucy, Tochter der Bildhauerin Vera. Sie hat gerade einen Artikel über Epigenetik gelesen: „Kann ein Kind sich an das erinnern, was die Eltern vergessen haben?“ Das ist eine Frage, die sie tief bewegt, denn Lucy versucht herauszufinden, warum ihr älterer Bruder Simon spurlos verschwunden ist; warum dieser Bruder schon als Kind von schlimmen Träumen heimgesucht wurde; und warum etwas in ihrer Familie schon immer irgendwie anders war: „Es war etwas zwischen den Erwachsenen, etwas Ungreifbares.“ In „Flugschnee“ jedenfalls wird deutlich, dass die Verstrickungen der Vergangenheit auch Auswirkungen auf die Gegenwart haben. Bereits der Titel deutet es an: Flugschnee ist laut Wikipedia sehr feiner Schnee, der durch das Dach in ein Haus gelangen kann. Im Roman ist denn auch die Rede von etwas Nassem, das ins Familienhaus einsickert, „eine Art feuchte Wut“. Was da vor sich hin schimmelt, wird im Verlauf der spannenden Lektüre erst allmählich sichtbar. Denn die Protagonisten können oder wollen sich nicht erinnern an einen Weihnachtstag vor vielen Jahren, an dem ganz kurz ein Geheimnis gelüftet wurde, das mit Schuld zu tun hat, mit Scham: Die Studentin Lucy war damals noch zu klein, um etwas abzuspeichern. Ihre Großmutter wiederum kann die Vergangenheit nur bruchstückhaft hervorholen: Jede Erinnerung, die ihr zuflog aus dem Nebel, in das sich ihr Denken zuweilen verirrte, war wertvoll und musste ausgekostet werden.
-Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, Juli 2017
..."Flugschnee" ist ein kunstvoll gebauter Familienroman, der vier Generationen in einem spannungsreichen Handlungsgefüge zueinander in Beziehung setzt.
(…) Die Autorin erzählt uns diese Familiengeschichte nicht in einem stringenten, chronologisch aufgebauten Plot. Vielmehr legt sie die Handlungselemente wie Mosaiksteine auf, in Zeitsprüngen, scheinbar assoziativ, fragmentarisch und aus wechselnden Perspektiven. Leser mit Konzentrationsschwächen könnten bisweilen den roten Faden verlieren. Müller-Wielands Erzählverfahren hat aber Methode und Konsequenz. Vom Schluss her betrachtet erschließen sich die gestalterischen Linien dieses anspruchsvollen, stilistisch sehr schönen und menschlich berührenden Romans. Birgit Müller-Wieland wertet und verurteilt nicht, sie macht uns das verletzende und verletzliche Mängelwesen Mensch etwas verständlicher – und das ist viel!
-Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, Juni 2017
...In ihrem Roman „Flugschnee“ erzählt Birgit Müller-Wieland eindrücklich, welche Löcher das Verschwinden in das Leben der Zurückgebliebenen reißen kann (…)
Nicht nur für Müller-Wieland, die über “Die Ästhetik des Widerstands” promoviert hat, ist Weiss ein wichtiger Autor, sondern auch für ihre Figuren: für Vera, der die “Ästhetik” den Weg nach Berlin und zur Arbeit als Bildhauerin wies, für die demenzkranke Großmutter, der das Buch “Straße und Plätze ihrer Kindheit zurückgeholt” hat, “und die Erinnerung an die warme Vaterhand, die sie festhielt, sonntags im Pergamonmuseum”, und indirekt auch für die Familiengeschichte der Großelterngeneration zwischen Faschismus und der Suche nach dem moralisch “richtigen” Verhalten. Auf gewisse Weise ist Weiss` Roman auch prägend für Müller-Wielands Erzählprinzip: Am Beginn der “Ästhetik” beschreibt Weiss den Pergamonaltar als fragmentiertes Gewimmel von Objekten, von Menschlichem und Tierischem. Es ist erst der Blick aus der Distanz, der es ermöglicht, die Gesamtkomposition des Reliefs zu erfassen. Ähnlich verhält es sich mit den Erinnerungen der Figuren, die sich Mosaikstückchen ähnlich langsam zum Bild dieser Familie und ihrer Geschichte zusammensetzen lassen.
-Johanna Öttl, Die Presse, Mai 2017
...Das Sich-Erinnern ist ein großes Thema bei Birgit Müller-Wieland, davon zeugen die zahlreichen Rückblenden, die den Roman durchziehen. Erinnerungen sind hier jedoch stets etwas Fragiles, Unsicheres – bei Lucy, weil sie noch zu klein war, um sich an die Ereignisse im Haus der Großeltern zu erinnern; bei Helene, weil sie an einer beginnenden Demenzkrankheit leidet, vieles durcheinanderbringt und ein Gefühl von Schneeflocken im Kopf hat…
Der Schnee, dem der Roman auch seinen Titel verdankt, ist eines der vielen Motive, die ihn wie ein roter Faden durchziehen. Er steht stets für etwas Unheilvolles, besonders für den alles verändernden tief verschneiten Dezembertag, seit dem die Familienmitglieder versuchen, dem Schnee aus dem Weg zu gehen. Obwohl sich die Handlung – trotz vieler „Cliffhanger“ – eher langsam und ohne Hektik entwickelt, wird die Spannung durch das rasche Alternieren der beiden Handlungsstränge während der gesamten Lektüre kontinuierlich hochgehalten…
-Verena Resch, drehpunktkultur.at, Mai 2017
...Sehr überzeugend überlässt Müller-Wieland jedem Familienmitglied ein eigenes Tempo aus der Sprachlosigkeit. Sie streut Hinweise, die sich im Weiterlesen aus sich allein erklären, und zeigt wie sich Lebensentwürfe in den letzten 70 Jahren geändert haben. Wiederholt zitiert sie die Stelle aus Die Ästhetik des Widerstands, mit der sich Lucys und Simons Eltern kennengelernt und aus der Fassung gebracht hatten: “Wir fragten uns, was das Wahre in der Kunst sei, und fanden, es müsste das Material sein, das durch die eignen Sinne und Nerven gegangen war”. Flugschnee sickert unter die Haut.
-Christian Duncker, Autorenbuchhandlung Berlin, Herbst 2017