Aus: Programmheft zu "Das Märchen der 672. Nacht",       
       Wiener Kammeroper 2000

"Wir dienen Dingen, die wir nicht begreifen"
Versuch einer "Traumdeutung" 100 Jahre später

Wie ein Rätsel erscheint "Das Märchen der 672. Nacht": Es erzählt eine Geschichte, die sich leicht offenbart, aber in einem seltsamen Schwebezustand gehalten ist, vergleichbar dem Traum. Alles wirkt klar und doch entrückt: "Die Geschichte hat nichts von der Wärme eines Märchens, wohl aber in wunderbarer Weise das fahle Licht des Traums....", so Arthur Schnitzler nach der Lektüre.
Und wirklich:
Was ist das für ein seltsamer junger Mann, dieser Kaufmannssohn. Alle Bindungen nach außen bricht er bewußt ab, lebt ein narzißtisches, ganz dem schönen Schein verschriebenes Dasein. Seine Dienerinnen und Diener umkreisen ihn "wie Hunde", über die es ihm manchmal gefällt nachzudenken. Zwar beunruhigen ihn seine dienstbaren Geister auch, da er sie leben fühlt, ja, stärker leben fühlt als sich selbst. Jedoch erst, als die vermeintliche Idylle des Landhauses durch die äußere Welt bedroht wird, beginnt er zu handeln. Der Weg in die Stadt gerät zunehmend zum nächtlichen Alptraum, an dessen Ende die endgültige - und gänzlich andere als gedachte - Vereinigung mit dem Tod steht. Dieser ist keine Kränkung des Lebens mehr, kein "Freund", als welchen der Kaufmannssohn ihn vor seinem Gang imaginierte - in krassestem Gegensatz zu seinen hochfliegenden Illusionen stirbt er den lächerlichen, schmutzigen Tod in der Gosse, in einer Einsamkeit, die nichts mehr mit der selbstbespiegelnden Genügsamkeit des melancholischen Erben gemeinsam hat.

Hofmannsthal schrieb dieses Märchen, nachdem er zum ersten Mal die Welt als eine stinkende, hungrige, bedrohliche erfahren mußte. Er leistete seinen Militärdienst in einem Dragonerregiment in Göding, einem mährischen Dorf, ab, fern von allem Gewohnten, allem Freundlichen, Glänzenden, in dem er sich bisher als junger, erfolgreicher Dichter auf sicherem Wiener Boden bewegen konnte. Nichts war angesichts dieser Erfahrungen wie zuvor, und es scheint, als hätte er die Geschichte des Kaufmannssohnes erzählen müssen, um sie nicht selbst zu erleiden. "Ich glaube: Das schöne Leben verarmt einen. Wenn man immer so leben könnte, wie man will, würde man alle Kraft verlieren", schreibt er im Jahr 1896 an seinen Freund Leopold von Andrian. "Wo du sterben sollst, dahin tragen dich deine Füsse" und "Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod" - diese beiden "finsteren Sprichwörter" singt der Kaufmannssohn zu Beginn der Oper, wenn er sich am Todesgedanken berauscht. Während das erste Sprichwort im babylonischen Talmud vorkommt, also jüdischen Ursprungs ist, notierte sich Hofmannsthal zweiteres als "das türkische Sprichwort". Vermutlich ist dieses als orientalische Weisheit in weiterem Sinne anzusehen, es impliziert, daß der Mensch selten in den Genuß des mühsam Erbauten kommt, daß Zivilisation als Höhepunkt - das "fertige Haus" - Décadence und Tod mit sich bringt/bringen kann. Im Fin de siècle empfindet sich der aus den oberen Schichten stammende Mensch vor allem als Genießer bereits erworbener materieller oder kultureller Güter. Eine Kultur des Überflusses, Überdrusses führt zum Spiel mit Weltanschauungen und ästhetischen Genüssen, das nicht in die Tat mündet, sondern in ein Streben nach "ruhigem Besitz". Als eine Form der Décadence gilt das Ritual, sich in die Künstlichkeit zurückzuziehen, Lebendigkeit an der Betrachtung des Todes zu entzünden. "Wie glichen wir diesen weit von der Heimat verirrten Prinzen, diesen Kaufmannssöhnen, deren Vater gestorben ist, und die sich den Verführungen des Lebens preisgeben, wie meinten wir ihnen zu gleichen", schreibt Hofmannsthal rückblickend im Jahre 1906 in einem mit "Tausend und eine Nacht" übertitelten Essay.

Am Ende unseres Jahrhunderts spüren wir den Todeskeim, der im Ästhetizismus steckt, auf neue Weise: Umgeben von ererbten Gütern und virtuellen Welten im hochindustrialisierten Teil des Globus, wo der schöne Schein, das Design das Bewußtsein dominiert, in dem menschliche Bindungen und Arbeitskraft einer permanenten Änderung und Beschleunigung unterworfen sind, empfinden wir uns oftmals als "geometrischen Ort fremder Geschicke", wie Hofmannsthal den Kaufmannssohn auch definierte. Das Libretto der Oper lehnt sich eng an das Märchen an. Dennoch gibt es einige gravierende Veränderungen. Der Tod als Über-Ich, der den Weg des Kaufmannssohns begleitet, fungiert als unbewußter Bereich, als Kommentator, als Verhöhner einer bürgerlichen Welt, welche sich in Sicherheiten wähnt, die es nicht gibt. Das erste und das letzte Wort haben die Dienerinnen und der Diener. Ihre Perspektive ist der Rahmen, innerhalb dessen sich der Kaufmannssohn sein Spiegelbild von der Welt baut: "Diener so sein eigenstes wie für Vater Waren, für Alexander eroberte Länder und kühne Träume", notierte Hofmannsthal in der Zeit der Niederschrift des "Märchens".
In der Oper wird einer Dienerin ein drittes Sprichwort in den Mund gelegt. Es stammt vom Schriftsteller Saul Bellow, der für unser gegenwärtiges Lebensgefühl den Satz geprägt hat: "Wir dienen Dingen, die wir nicht begreifen." Als der Herr nicht nach Hause kommt, träumen und schlafwandeln die Dienenden seine Ankunft herbei. "Er wird kommen" ist die ausweglose messianische und/oder politische (Un-) Heilsgewißheit, die das Fortleben in einer vermeintlich intakten - wenn auch untergebenen - Identität gewährleisten soll.