Aus: SALZ. Zeitschrift für Literatur. "Zu Georg Trakl". Salzburg 2006

"Ein Toter besucht dich. Über Umwege."

Salzburg war für mich 1980 eine Stadt des Aufbruchs.
Vom Attersee, aus den Ausseer Bergen und diversen Katastrophen gekommen, verhieß die Stadt alles Mögliche: Vergessen, Neubeginn, Überschaubarkeit, große Welt.
Georg Trakl blieb mir lange fremd.
Obwohl ich zu jener Zeit seine dichtenden Brüder und Schwestern entdeckte - vor allen anderen begeisterten mich Georg Heym und Else Lasker-Schüler - blieben mir Trakls Verse verschlossen. Ich las sie, und sie trafen mich nicht.
Das Wenige, das ich von seinem Leben wußte, war verstörend. Die Schwester, die Drogen, der Krieg, das alles fand ich bedrohlich, während mich das tragische Leben und Sterben anderer Dichter und Dichterinnen faszinierte, abstieß und anzog zugleich.
Trakl aber war durch die Judengasse gelaufen, hatte in der Linzergasse gearbeitet, den Mönchsberg, Anif und Hellbrunn bedichtet - er war zu nah, als daß ich mich ihm öffnen hätte können. Zu dunkel grundiert war mir seine "schöne Stadt", zu hoffnungslos, deprimierend - es war die falsche Zeit. Und vielleicht verhält es sich mit ihm so wie mit Schubert in der Musik: Beide greifen uns mit ihrer Kunst direkt ins Herz. Es gibt Zeiten, in denen man das weniger gut aushalten mag. Viele Jahre später entdeckte ich Trakls Werk neu - über beträchtliche Umwege.
Beim Packen des Rucksacks für meine erste Südostasien-Reise nahm ich neben Uwe Johnsohns "Jahrestagen" eher zufällig noch ein Buch aus dem Regal, das hier schon acht Jahre ebenfalls ungelesen wartete:
Franz Fühmanns 1984 im Rostocker Hinstorff Verlag erschienener Band: "Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht". Im Anhang waren Trakls Dichtungen und etliche Briefe angeführt.
In der schwülen Hitze Singapurs in einem foodstall sitzend, umgeben von Geschrei und Gerüchen, die mir eindrucksvoll den Begriff "Kulturschock" vermittelten, begann ich also einem Dichter aus der DDR zu folgen, der 1945, wenige Tage vor Ende des Krieges und vor seiner russischen Gefangenschaft stehend, Trakl lesend eine Erschütterung erfuhr, die lebenslang anhalten sollte.
In jener Nacht, in der er mit seinem Vater, einem Pharmazeuten und überzeugten Nazi, ein letztes Mal vor dessen Selbstmord einige Tage später im sudetendeutschen Elternhaus zusammensitzt, fragt ihn
dieser, was er da lese.
Der junge Soldat, gerade aus einem Lazarett entlassen, in wenigen Stunden wieder zum Aufbrechen gezwungen, zeigt ihm das antiquarische Buch mit den Zeilen aus dem Gedicht "Untergang": "....Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind/......Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht."..., - der Vater fragt, ob dieser Trakl aus Salzburg stamme, der Sohn bejaht, der Vater: "Dann sei also aus dem armen Schorschl doch noch etwas geworden."
Ein Kriegskamerad also war Fühmanns Vater gewesen, ebenfalls Heeresapotheker. 1914 begegneten sie einander in einer Sanitätskolonne bei Przemysl. Dort war Fühmanns Vater Zeuge von Foppereien Trakl gegenüber geworden, der als "Spinner" galt mit seiner Gedichteschreiberei.
Von dessen Ende kurz darauf war ihm nichts bekannt.
Das alles erfuhr ich im merkwürdigen Wechsel von fünfunddreißig Grad schweißtreibender Außentemperatur und dem eisig-klimatisierten Inneren des Busses, der Richtung Norden zur thailändischen Grenze unterwegs war. Während draußen der malaysische Tropenwald vorüberzog, kamen Bilder auf mich zu, die blieben: "Strahlender Sonnenabgrund" war eines von ihnen.
Auch später, auf der kleinen Insel im südchinesischen Meer, die Leguane betrachtend, die urzeitlich-majestätisch um die Holzhütten staksten, oder auf einem staubigen Grenzbahnhof im Süden Thailands, kam mir Trakl nahe, so nahe, wie es in Salzburg nie möglich gewesen wäre. "....Ein Toter besucht dich. Aus dem Herzen rinnt das selbstvergossene Blut und in schwarzer Braue nistet unsäglicher Augenblick...."
1998 war es erneut eine Reise, die mich an ihn erinnerte, meine erste Reise in die Ukraine. In der hügeligen Landschaft Galiziens besuchten wir unweit von Lemberg auch einen Friedhof, auf dem einige der schiefen Holzkreuze deutsche Namen trugen: Gefallene Soldaten aus dem ersten Weltkrieg, gestorben 1914. Ein Frühlingswind strich über das frische Grün, als sicher nicht nur ich an "Grodek" dachte, an: "Alle Straßen münden in schwarze Verwesung". Dennoch: Georg Trakl wird mir immer wieder entgleiten, das sagt meine bisherige Erfahrung. Liegt es daran, daß mich immer nur einzelne Verse treffen, selten das gesamte Gedicht? Ist es das Unentrinnbare, auf das alles zielt bei ihm?
Daß ich seit vielen Jahren nun in Berlin lebe, fünf Minuten vom ehemaligen Elternhaus Georg Heyms, zwei Minuten vom Lietzensee entfernt, auf dem wir winters Schlittschuh laufen wie er 100 Jahre zuvor, ist jedenfalls nicht der Grund, warum die Gedichte dieses Dichters nachhaltigere Wirkungen in mir erzeug(t)en.
Auch Georg Heym starb jung und tragisch, schrieb mit apokalyptischer Wucht. Mit Trakl aber Umgang zu haben, bedeutet mehr noch als bei ihm und anderen in das hineinschauen, wo niemand hinwill:
In einen Schmerz, der wie ein Strudel in die Hölle führt.