Aus: "Der Kobold der Träume". Spuren des Unbewußten

Traum. Eltern. Elemente.

Mein Vater war ein Hund, er tauchte hin und wieder auf, drehte seine Runden mit hechelnder Schnauze, schüttelte sich am Ufer.
Hatte er alles in seiner Umgebung naß gemacht, rannte er los und niemand von uns wußte, wann er wiederkam.
Wir Kinder sahen ihm nach, stumm, glubschäugig.
Wir waren kleine Fische für ihn. Jedes von uns spürte noch seine Zähne, seine dampfende Zunge. Er glaubte, es mache uns Spaß.
Wenn er den Strand entlangfegte, sandaufwirbelnd, neue Abenteuer witternd, schaukelten wir eine Weile in den Wellen hin und her, so lange, bis er verschwunden war.

Natürlich hatte unser Vater recht, wenn er meinte, wir seien ganz aus der Art geschlagen.
Und vielleicht hätte der Ausdruck seiner Augen, die sich trübten, wenn er das sagte, etwas in uns bewirken können, eine Nähe vielleicht, die wir uns alle wünschten, ohne es einander zu gestehen.
Wir sahen seinen Staubwolken hinterher, schaukelten, ließen Luftbläschen steigen.
Kaum war er verschwunden hinter den Hügeln jenseits des Strandes, begann das Leben in Freiheit. Eine Freiheit, von der er nichts ahnte.
Denn das Wasser war unser Element.
Über uns verschwendete sich der Himmel im Blau, unter uns schimmerten die Schätze der Unterwelt.
Wir glitten über sie hinweg wie Buchhalter, die ihre Listen kontrollieren.
Wir zählten die Steine, die ihre Farben wechseln konnten, die Schlingpflanzen, Dosen, die Muscheln, die aussahen wie Zähne gefallener Engel.
Wir schlugen pelzige Flaschen an Felsen, begutachteten uns in den Splittern und kicherten über Botschaften, die einmal wichtig gewesen waren. Wir folgten den schwarzen Spuren, die uns zu den Tankern führten, wir schliefen in Rippenbögen und spielten Völkerball mit Schädeln.

Unsere Mutter hockte in einer Höhle, an der wir manchmal vorbeikamen.
Es war immer das gleiche Bild: Die Wasserfrau in den Armen ihres Geliebten, der Riesenkrake.
Sie kam einfach nicht los, und wir wußten, sie wollte es auch nicht.
Unsere Mutter öffnete ihren Mund, wenn sie uns sah, aber weder ich noch meine Brüder und Schwestern konnten je etwas von ihr hören. Nachts schwammen wir nach oben und sahen den Sternen zu.

Es beruhigte uns, daß die Sterne strahlten, auch wenn sie längst tot waren.
Wir stellten uns vor, daß die Erde blau ins Weltall hineinleuchten würde, noch Jahrtausende später, nachdem das letzte Lebewesen zerfallen war.
Der Mond schien uns auszulachen.
Er machte silbrige Scherben aus den Wellen, trieb uns in die gefährliche Nähe des Strandes und ließ zur Abschreckung für uns allerlei liegen dort.
Wie jämmerlich die Dinge aussahen auf festem Boden: keine tanzende Wiese mehr war der Tang, sondern Dreck, glanzlos die Dosen, die Muscheln grau und grob.
Wir schworen uns, nie an Land zu gehen.
Das Wasser war gnädig. Es nahm alles auf, verwandelte das, was zu ihm gehörte, und das, was nicht zu ihm gehörte, auch.
Es machte Kunstwerke aus den Dingen, bizarre, schöne, schreckliche Formen. Es gab den Dingen ihre Unteilbarkeit zurück.

Eines Nachts muß ich mich wohl von den anderen entfernt haben.
Rundherum rauschte es. Der Himmel war bedeckt, und vielleicht konnte ich gerade deswegen die Kräfte des Mondes umso deutlicher spüren.
Gleichzeitig merkte ich, wie meine eigenen nachließen, ich kämpfte gegen die Flut an, strampelte, schrie. Das Rauschen übertönte alles.
Als mich das Wasser an den Strand spuckte, dachte ich natürlich, das sei das Ende.
Am Morgen hatte ich ein Kabel um den Bauch. Ich befreite mich davon, robbte zurück zu den Wellen, auf denen Schaumkronen tanzten wie Milchhäubchen.
Aber das Wasser nahm mich nicht mehr zurück.
Ich konnte nicht mehr atmen in ihm. Weder Schreien noch Bitten noch Drohungen erweichten das Wasser.
Du hast die Seiten gewechselt, schmatzten und schlürften die Wellen, jetzt schau, wo du bleibst.

Manchmal sehe ich nun in der Ferne meinen Vater.
Er erkennt mich nicht mehr, was mir recht ist. Wer will schon einen Strandköter zum Vater haben, dem es Spaß macht, die Hosen von Urlaubern zu zerfetzen.
Nachts heult er den Mond an.
Aber vielleicht sind es auch die Autos von der Schnellstraße, ich höre nicht mehr so gut.
Oft stehe ich am Wasser.
Ich bohre meine Zehen in den Sand, halte Ausschau.
Und wenn ich die Arme ausbreite, hineinlaufe und untertauche für die kurze Zeit, in der das Wasser mich behält, lösen sich alle Fragen auf wie damals, als ich noch nichts wußte von der Festigkeit des Bodens, nichts von den schrecklichen und schönen Formen jenseits der Dünen, und alles wußte über das Wasser, das keine Lücke hat.